Über das Werk
Es ist das berühmteste Ballett aller Zeiten:
die traurige Geschichte vom Prinzen Siegfried, der sich mitten in der Nacht tief im Wald in die Schwanenprinzessin Odette verliebt, ihr ewige Treue schwört, jedoch durch die bösen Kräfte des Zauberers Rotbart und Odettes Gegenspielerin Odile getäuscht wird.
Handlung
Prinz Siegfried feiert seinen Geburtstag mit zahlreichen Gästen. Morgen soll er unter den Schönen des Landes eine Braut wählen. Zum Zeichen der Reife erhält er von seiner Mutter eine Armbrust. Allein geblieben, fühlt sich Siegfried von einem Schwarm vorüberziehender Schwäne seltsam angezogen. Dunkle Ahnungen überkommen ihn. Obwohl es schon Abend wird, geht er auf die Jagd.
Zauberer Rotbart herrscht über einen Schwarm weißer Schwäne. Diese sind verzauberte Mädchen. Nur in der Nacht dürfen sie ihre menschliche Gestalt annehmen. Eine von ihnen ist die Schwanenprinzessin Odette. Ihr und ihren Freundinnen ist Siegfried immer tiefer in den Wald gefolgt. Im Zauber der schwebenden Tänze der Gefährtinnen verlieben sich die beiden. Odette offenbart, dass nur ein Mann, der ihr ewige Treue gelobt, sie aus dem Zauberbann Rotbarts erlösen kann. Siegfried schwört, dieser Mann zu sein. Der Tag bricht an, die Mädchen gehen zum See zurück, wo sie sich wieder in Schwäne verwandeln. Rotbart hält Siegfried davon ab, ihnen zu folgen.
Die Brautwahl am Hofe der Königin ist in vollem Gange. Aber keine der sechs Prinzessinnen, die Siegfried vorgestellt werden, vermag sein Herz zu rühren. Da tritt eine schöne, schwarzgekleidete Fremde in Begleitung eines stolzen Edelmannes ein. Siegfried ist verwirrt; er glaubt, in diesem mysteriösen Geschöpf, das einem schwarzen Schwan gleicht, seine geliebte Odette wiederzuerkennen. Nachdem die Gäste sich mit Tänzen aus ihrer Heimat Spanien, Italien, Polen und Ungarn präsentiert haben, bittet Siegfried die Fremde zum Tanz und verkündet, dass er sie zur Braut wähle. Triumphierend zeigt sich der Zauberer Rotbart unter seiner Maske. Die von Siegfried Erwählte ist Odile, Rotbarts Tochter. Siegfried muss erkennen, dass er getäuscht wurde. Auf der Suche nach Odette stürzt er in den Wald.
Die weißen Schwäne tanzen ihre elegischen Reigen. Vergebens versuchen sie, Odette zu trösten. Atemlos taucht Siegfried auf. Obwohl Odette weiß, dass alle Hoffnung auf Erlösung verloren ist, verzeiht sie ihm. Doch Rotbart führt seine Rache zu Ende: Er lässt den See über die Ufer treten, Siegfried stirbt in den Wellen.
Bis heute hat sich jene Inszenierung ihre Gültigkeit und Faszinationskraft bewahrt, die Marius Petipa 1895 mit Lew Iwanow in St. Petersburg herausbrachte. Mit seiner Choreographie der Weißen Akte erfand Iwanow jene Formensprache und Bildästhetik, die den »Mythos Schwanensee« begründete. Fast 70 Jahre später, in einer völlig veränderten Welt griff Rudolf Nurejew Petipas und Iwanos Fäden auf, die im 20. Jahrhundert bereits im Osten wie Westen in unterschiedlichen Nuancen weitergesponnen worden waren. Mit der Premiere seines Wiener Schwanensees präsentierte er 1964 eine Verdichtung des russischen Bewegungsmaterials in höchste Virtuosität und lenkte den Fokus auf den Einzelgänger Siegfried. Seine Choreographie, die mit 89 Vorhängen bei der von Nurejew selbst an der Seite von Margot Fonteyn getanzten Premiere ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen wurde, ist auch heute noch ein Signatur-Werk des Wiener Staatsballetts und findet seine Interpretation durch immer neue Generationen von Tänzerinnen und Tänzern.
Wie viele Künstler der Romantik fühlte sich auch Peter I. Tschaikowski von märchenhaften Stoffen angezogen und machte sie u.a. zur Basis seines ersten großen Balletts Schwanensee (1877) – eine Partitur, die auf damals noch nie gehörte Weise Situationen mit theatralischem Gespür motiviert und die Charaktere durch psychologische Ausleuchtung als echte Menschen zeigt – auch wenn sie in einem Märchen auftreten. Den farbenreich-lebensfrohen, aber auch elegant-mondänen, immer wieder vom Walzertakt geprägten Tänzen der beiden Festakte stehen die poetisch-lyrischen, aber auch dunkel-dramatischen Welten der Actes blancs gegenüber. Den Divertissements vermochte Tschaikowski jenseits ihres Unterhaltungscharakters dramaturgische Begründung zu verleihen. Das Prinzip der Metamorphose, das die Handlung des Schwanensee bestimmt – Siegfried befindet sich auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, Menschen werden zu Schwänen oder Eulen, real-alltägliche Welten verwandeln sich in imaginäre – prägt auch die Komposition, die beständig ihre Farben wechselt – und dies bis hinein in die motivisch-thematische Arbeit mit Leitmotiven, die sich der jeweiligen Situation oder Stimmung genauestens anzupassen wissen.