Über das Werk
Zwei Ikonen der New Yorker Tanzmoderne treffen auf eine Uraufführung Martin Schläpfers:
Mit Divertimento Nr. 15 schuf George Balanchine ein duftiges neoklassisches Mozart-Ballett, aber auch Merce Cunningham hat in seinem sprungfreudigen Tanzstück Summerspace den Kontakt mit den Lüften nicht verloren. Zu einer hochdramatischen Symphonie choreographiert dagegen Martin Schläpfer ein neues Werk für die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts: Tschaikowskis letzte, von emotionalen Höhenflügen und tiefen Einbrüchen geprägte Pathétique.
»Ich versuche, interessante Proportionen der Bewegung in Zeit und Raum zu finden, denn Musik ist Zeit. Es ist nicht die Melodie, die zählt, sondern die Zeit, die sie dir gibt«, sagte George Balanchine einmal über sein choreographisches Arbeiten. Divertimento Nr. 15 aus dem Jahr 1956 ist eines der wenigen Ballette, die Balanchine auf ein Werk Wolfgang Amadeus Mozarts schuf. Ganz aus der Musik – Mozarts Divertimento B-Dur KV 287 – geboren beschwört es aufs Schönste den Geist des Divertissements, ursprünglich geschaffen, um zu unterhalten. Der kammermusikalischen Partitur entspricht eine ausgewählte Ensemblebesetzung mit fünf Solistinnen, drei Solisten und einem Corps de ballet aus acht Tänzerinnen für eine Choreographie, in der Balanchine mit raffinierter Zartheit vielfältige geometrische Muster in den Raum schreibt und zugleich seine Tänze aber mit großer Kraft, virtuosem Verve und individuellem Charakter in den einzelnen Variationen entfaltet.
Mit Summerspace kommt – nach der Premiere seiner Duets 2022 in der Volksoper Wien – erstmals ein Werk Merce Cunninghams mit dem Wiener Staatsballett in die Wiener Staatsoper. Kein anderer Choreograph hat die Selbstverständlichkeiten der Tanzkunst so radikal in Frage gestellt wie Cunningham mit seiner Aufhebung der Beziehungen zwischen Bewegung, Musik sowie Bühnen- und Kostümdesign, der Entwicklung einer Tanztechnik, die neue Verbindung zwischen den Teilen des Körpers schafft, oder der Befreiung von traditionellen Vorstellungen des Theaterraums. In Summerspace scheinen in der gelösten Atmosphäre eines lauen Sommertags sechs Tänzerinnen und Tänzer über einem imaginären Koordinatensystem wie Vögel über die Bühne zu fliegen. »Es geht um Raum, wie der Titel schon sagt«, erläuterte Cunningham. »Ich nummerierte die Bühnenzugänge (...) und zeichnete alle dazwischen möglichen Verbindungswege auf.« Dies ergab 21 Möglichkeiten, für die er unterschiedliche Formen der Bewegung definierte und deren Abfolge und Tempo nach dem Zufallsprinzip der Aleatorik festlegte. Für die Gestaltung der Bühne und Kostüme sowie der musikalischen Partitur konnte er zwei herausragende zeitgenössische Künstler gewinnen: Robert Rauschenberg schuf eine pointillistische »Blütenlandschaft«, Morton Feldman komponierte eine atmosphärische Musik für zwei Klaviere.
Zum Abschluss des Programms präsentiert Martin Schläpfer seine Uraufführung Pathétique. Zu Piotr I. Tschaikowskis gleichnamiger Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74 taucht er noch einmal in die kreative Arbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern des Wiener Staatsballetts ein. »Tschaikowskis Sechste umspült uns wie ein Wasser, in dem wir versinken, aber nicht voller Schmerz, sondern wie eine Erlösung und trägt dann wieder empor, voller Virtuosität, brillanten Tempi, einem großen Spektrum an Dynamiken und einem faszinierenden Melodienreichtum«, bemerkt Martin Schläpfer über die Partitur. »Eine Symphonie wie ein Roman und trotz allem, was man in sie hineingelesen hat, ein Rätsel. Sie ist mir Ausgangspunkt und Basis meines neuen Balletts.«
Was sich in Sachen Tanz im New York der 1950er Jahre abspielte, zählte zu den inspirierendsten Phasen der Tanzgeschichte und gilt bis heute als wegweisend. Auf der einen Seite George Balanchine, der Begründer des New York City Ballet und Brückenbauer zwischen der alten zaristischen Tradition Russlands und einer eigenen, das Ballett in Amerika prägenden Neoklassik, die mit ihrem Weiterdenken des Vokabulars der Danse d’école, ihrem Verständnis von Tanz als Musizieren mit dem Körper im Raum und ihrem von Athletik geprägten Körperbild das Ballett revolutioniert hat. Auf der anderen Seite die vielfältigen Formen eines Modernen Tanzes, der sich in so unterschiedlichen Positionen wie denen von Martha Graham, Paul Taylor oder Merce Cunningham – um nur einige Namen zu nennen – manifestierte. Mit George Balanchines Divertimento Nr. 15 und Merce Cunninghams Summerspace lädt das Wiener Staatsballett in der Premiere Pathétique dazu ein, in diese faszinierende Zeit einzutauchen und sich von zwei konträren Ansätzen verzaubern zu lassen. Darüber hinaus schlägt das Programm aber auch einen Bogen in die Gegenwart mit der Uraufführung Pathétique, mit welcher Martin Schläpfer seine choreographische Arbeit für das Wiener Staatsballett unter seiner Ballettdirektion abschließen wird.
Für Kunstfreunde eröffnet die Premiere zudem eine besonderes Highlight: den Bühnen- und Kostümentwurf zu Cunninghams Summerspace schuf Robert Rauschenberg, der als Wegbereiter der amerikanischen Pop Art gilt, mit seiner Affinität zu den darstellenden Künsten u.a. aber auch ein enger Partner von Cunningham und John Cage war. 2025 feiert die Welt den 100. Geburtstag des Künstlers.